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Als der Zucker in den Norden kam

Unsere Geschichte - Made in Norddeutschland

Bild 3Seit mehr als 200 Jahren wird im Norden Zucker aus Rüben hergestellt. Zu Anfang mit viel Aufwand und harter körperlicher Arbeit – heute mit modernsten Maschinen und immer weniger Mitarbeitern. Aber eines ist geblieben: Wenn Mitte September der Startschuss für die sogenannte Rübenkampagne erfolgt, dann ticken die Uhren in Norddeutschland anders, vor allem in Uelzen. 2 000 Landwirte aus Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Mecklenburg-Vorpommern liefern dort dann ihre Zuckerrüben ab. Im Durchschnitt sind das etwa 2,3 Millionen Tonnen Rüben pro Jahr. Das Besondere: Wenn die Produktion einmal läuft, darf sie während der Kampagne nicht unterbrochen werden – die Fabrik kommt nie zum Stillstand, verarbeitet rund um die Uhr die Rüben zu Zucker. In Uelzen steht eine der ältesten und größten Zuckerfabriken Europas – erbaut im Jahre 1883.

Bild 2Diese Dokumentation zeigt den Weg der Rübe vom Acker bis in die Fabrik. In jedem einzelnen Arbeitsschritt gibt es einen Blick zurück in die wechselvolle Geschichte. Wie hat sich der Rübenanbau entwickelt? Welche Rollen spielen Saatgut und Maschinen? Wie arbeiteten die Fabriken gestern und wie ist es heute? Und wie haben die Menschen das alles erlebt? Dazu begleiten und befragen wir Landwirt Johannes Grünhagen aus Uelzen, die Zeitzeugen Hans-Jürgen Lux und Irmgard Hennig, den Rübenbauern Cord Büttner aus Hohenhameln sowie den Lohnunternehmer Peter Besenthal. Und wir lassen uns von Georg Sander die historischen Hintergründe erklären. Er leitet bei der Nordzucker AG in Uelzen das Agri-Center und ist der Verbindungsmann zwischen der Zuckerfabrik und den Landwirten.

Bild 3Jedes Jahr im Herbst sind die Rüben reif zur Ernte. Auf dem Hof von Johannes Grünhagen beginnt im September die Rübenkampagne. Der Landwirt ist 81 Jahre alt und hat noch 33 Hektar Rüben. Er fährt immer aufs Feld, wenn Lohnunternehmer Peter Besenthal mit seinem Rübenroder anrückt. „Sind die Wege zu nass und unbefahrbar, muss ich ihm das sagen“, erklärt der Landwirt. Auch will er sehen, ob der Roder gut eingestellt ist und nicht zu viele Blattreste an den Rüben hängen bleiben. Johannes Grünhagen hat schon als Kind den Rübenanbau verfolgt. Damals mussten Rüben und Blätter noch von Hand getrennt werden – außerdem hatte jede Pflanze mehrere Triebe, die in aufwändiger und kraftraubener Arbeit separiert werden mussten.

Bild 4Diese körperlich schwierige Arbeit auf dem Feld hat der 81jährige Landwirt noch selbst erlebt. „Zuerst mussten wir jede Rübe mit einer Rodegabel einzeln aus dem Boden holen, nachdem wir die Blätter abgetrennt hatten“, sagt Grünhagen. Damals habe es aber auch die sogenannten „Rüben-Mädchen“ gegeben. „Sie kamen aus den Ost-Gebieten und mussten Geld verdienen, damit die Menschen über die Runden kamen“, erzählt Johannes Grünhagen. Später war diese Arbeit nicht mehr nötig, denn die Saatgutfirmen optimierten von Jahr zu Jahr ihre Produkte, bis 1966 die sogenannte „Rübenpille“ erfunden wurde. „Das bedeutet, dass aus jedem Samen nur noch eine Rübe wuchs“, erklärt Zuckermanager Georg Sander. „Das war eine Revolution in der Geschichte des Rübenanbaus!“

Bild 5Peter Besenthal ist Lohnunternehmer und hat zusammen mit seinem Bruder fünf Rübenroder – jede dieser Maschinen kostet etwa 500 000 Euro. „Während der Kampagne bin ich jeden Tag im Einsatz, die Familie kommt dann immer recht kurz“, sagt Peter Besenthal. In einem Arbeitsgang erntet er 25 Tonnen, die er dann in einer Miete am Feldrand ablegt. Einen Hektar schafft er pro Stunde. Nach mehr als 200 Tagen im Boden haben die Zuckerrüben im Herbst ein Gewicht von über einem Kilo erreicht. Jetzt holt sie der Roder von Peter Besenthal aus dem Acker: „Die Maschine nimmt die Rüben, so wie sie gewachsen sind, aus der Erde raus: Das heißt vorne wird das Blatt von den Rüben getrennt, klein gehäckselt und zwischen den Rübenreihen auf die Erde abgelegt. Dahinter wird die Rübe von den Roderädern rausgenommen.“ Eine Fläche von 18 Fußballplätzen kann Peter Besenthal am Tag bearbeiten.

Bild 6Die erste dieser Erntemaschinen erfand Otto Wilke aus Hohenhameln, Ortsteil Harber. Noch stehen Teile dieser Pioniermaschine auf dem Hof seines Urenkels Cord Büttner im Schuppen. Und manchmal kommt auch jemand vorbei, um das rostige Teil zu besichtigen. In einem Aktenordner hat Cord Büttner alles fein säuberlich abgeheftet: Konstruktionspläne, Fotos und die Patenturkunde. „Ich bin schon stolz auf meinen Urgroßvater“, sagt der 56jährige Landwirt. Auch wenn der nicht mehr viel von seiner Erfindung gehabt hat. Als das Modell bei der Firma Stoll in Lengede in Serie ging, war Otto Wilke schon verstorben. Urenkel Cord Büttner lebt heute zusammen mit Ehefrau und vier Kindern auf einem Bauernhof aus dem 14. Jahrhundert. Während der Rübenkampagne erntet er selbst etwa 50 Hektar Rüben. So wie es seit Generationen schon seine Vorfahren gemacht haben.

Bild 7Nachdem Peter Besenthal die Zuckerüben am Feldrand in einer Miete abgelegt hat, werden sie von einer sogenannten Rübenmaus auf Lastwagen verladen. Eine Maschine, die die Rüben vor dem Abtransport reinigt. Koordiniert wird der Einsatz der vier Rübenmäuse in Uelzen durch den Maschinenring Uelzen-Isenhagen. „Die Rübenmaus fährt in den Haufen hinein und reinigt die Rüben so, dass sie anschließend relativ sauber auf den Lastwagen geladen werden können“, erklärt Geschäftsführer Hartmut König. Die Leistung einer solchen Rübenmaus liegt bei 350 Tonnen in der Stunde – alle vier Minuten wird ein LKW beladen.

Bild 8Das alles geschieht nach einem genau abgestimmten Zeitplan der Zuckerfabrik. Das ausgeklügelte Transportsystem ist computergesteuert – alle sind über das Internet vernetzt – jeder weiß, wann was zu tun ist: Der Bauer, der Roder, die LKW-Fahrer und vor allem die Zuckerfabrik. „Früher mussten die Landwirte noch selbst dafür sorgen, dass ihre Pflanzen zur Fabrik kamen“, erzählt Johannes Grünhagen. Erst mit Pferd und Wagen, später dann mit Trecker und Anhänger. Oft brach dann der Verkehr rund um Uelzen zusammen, weil zwar der Anliefertag mit den Landwirten vereinbart war, jeder seine Rüben aber dann brachte, wann es ihm am besten passte. So kam es dazu, dass gerade morgens nach dem Frühstück der Andrang groß war. Auf dem Fabrikgelände wurden die Anhänger dann auf eine Vorrichtung gefahren, gekippt und ausgeladen. „Damals hatten die meisten Landwirte noch keine Hydraulik“, erklärt Johannes Grünhagen.

Bild 9Von Montag bis Samstag bringen Lastwagen heute die Rüben zur Fabrik. Dort ist Zuckermanager Georg Sander im Dauereinsatz: „Die Fahrzeuge kommen wie die Ameisen auf den Hof und sie haben keine Wartezeiten. So soll es sein – bis zu 1000 Fahrzeuge in 24 Stunden – und das ohne Stau.“ So etwas war noch vor 30 Jahren unvorstellbar. Aber eines ist geblieben: Wenn die Rüben auf das Fabrikgelände kommen, wird von jeder Ladung zunächst eine Probe entnommen. Früher wurde die Rübenprobe noch per Hand vom Hänger geholt, heute geht das vollautomatisch. Aus den separierten Rüben wird ein Mus gewonnen, der dann wiederum im Labor analysiert wird. Dabei wird vor allem der jeweilige Zuckeranteil festgestellt. Bis zu 20 Prozent Zucker enthält heute eine gute Rübe. Auch das hat sich mit den Jahren durch eine immer verbesserte Zuchtleistung erheblich gesteigert. Zuständig im Labor ist Dr. Gisela Urban. Seit 38 Jahren macht sie das. Sie weiß: Je mehr Zucker eine Rübe hat, desto mehr Geld verdient der Bauer.

Bild 10Bis Mitte des 16. Jahrhunderts gab es in Europa nur Rohrzucker aus Übersee. Niemand konnte sich ihn leisten – er wurde mit Gold aufgewogen. Und auch später war er so selten und kostbar, dass man ihn nur in Apotheken bekam. 1747 hatte der Deutsche Andreas Sigismund Marggraf erstmals entdeckt, dass man aus Rüben Zucker gewinnen kann. Das war die Geburtsstunde unseres heutigen Zuckers. Der Chemiker Franz Carl Achard schaffe 1801 die Grundlagen der industriellen Zuckerproduktion – gleichzeitig entstand die erste Rübenzuckerfabrik der Welt in Cunern /Schlesien. 1838 wurde dann die erste Zuckerfabrik im Norden, in Klein Wanzleben, eröffnet. „Die Bauern merkten, dass man damit Geld verdienen kann“, sagt Georg Sander. Und so entstanden bald überall Zuckerfabriken.

Bild 11Vor allem nach dem Krieg stieg der Zuckerbedarf in Deutschland rapide an. „Die Menschen wollten sich wieder etwas gönnen. Die Frauen backten jeden Sonntag einen Kuchen, die Kinder bekamen Schokolade“, sagt Birgit Rothe aus dem Archiv der Nordzucker AG. Aber Zucker war immer noch teuer. Die Menschen hatten nicht viel zu essen. Aus Zuckerrüben machten sie sich ihren eigenen Sirup und nannten ihn Stips. Irmgard Hennig aus Springe erinnert sich noch gut daran, dass sie als junges Mädchen darauf lauerte, dass Rüben von den Anhängern der Landwirte fielen. Und auch Johannes Grünhagen kennt eine Anekdote aus der Zeit. Er saß als junger Bursche auf dem Anhänger und passte auf, dass jugendliche Räuber nicht die Rüben stahlen. Sie hatten sich Stöcke gebastelt mit einem Nagel – und fischten so die Rüben von der Ladefläche. Damals gab es weit über 100 Zuckerfabriken überall im Norden. Der Grund: Mit Pferd und Wagen konnten die Bauern keine weiten Wege zurücklegen.

Bild 12Doch mit der Industrialisierung und dem Ausbau der Verkehrswege wurden immer mehr Standorte geschlossen wie beispielsweise in Lehrte, in Schleswig, Weetzen (Foto) oder Hohenhameln. „Zucker ist zu einem Massenprodukt und zum Standard-Nahrungsmittel geworden. Und damit eben auch günstiger für den Verbraucher. Und das hieß für die Zuckerindustrie, dass man effizienter werden musste“, erklärt Georg Sander. Heute gibt es noch fünf Zuckerfabriken im Norden. Neben Uelzen und Klein-Wanzleben noch Schladen (Harz), Nordstemmen und Clauen bei Hildesheim. Und dort ist vieles noch wie früher. Die Bauern haben sich zu Liefergemeinschaften zusammengeschlossen und bringen ihre Rüben noch höchstpersönlich zur Fabrik. In Clauen wird ausschließlich Zucker für Industriekunden hergestellt.

Bild 13In den Fabriken herrschen heutzutage strenge Hygienevorschriften. Das war früher noch ganz anders. Besonders interessant sind die Bilder aus der Zeit direkt nach dem Krieg. „In Baumwoll-Unterhosen und mit nacktem Oberkörper arbeiteten die Männer in den Fabriken“, erzählt Birgit Rothe aus dem Nordzucker-Archiv. Heute ist das unvorstellbar. Die Fabrik ist klinisch sauber, die Mitarbeiter tragen Sicherheitskleidung - nur heiß ist es immer noch – um die 35 Grad. Ein schwerer süßlicher Geruch durchzieht die Fabrik. Eine Maschine schneidet hier die sauberen Rüben zu Sticks, diese werden gekocht und in die Extraktionsbehälter gepumpt. Dort beginnt der Prozess der Zuckerherstellung.

Bild 14Verantwortlich im Zuckerhaus ist Produktionsleiter Lothar Steinmann. Seit 30 Jahren ist er bereits bei Nordzucker beschäftigt. „Ich hab gelernt in einer Zuckerfabrik in Northeim, das ist in Süd-Niedersachsen. Dort hat mein Großvater schon gearbeitet und mein Ur-Großvater - an 100 Jahren Familientradition fehlt nicht viel“ lacht der Produktionsleiter. Er erklärt, dass der Zucker in 20 Meter hohen Türmen mit Hilfe von heißem Wasser aus den Rübenschnitzeln herausgelöst wird. Es entsteht Rohsaft. In der Verdampferstation wird dem gereinigten Rübensud solange das Wasser entzogen, bis er einen Zuckergehalt von 75 Prozent erreicht hat. Der Dünnsaft wird zum Dicksaft. Die Abläufe in den Türmen, Tanks und Zentrifugen laufen vollautomatisch. Überwacht werden sie an einem zentralen Leitstand. Vier Männer sind rund um die Uhr im Einsatz. Durch eine Art Bullauge können sie in das Innere der Behälter sehen. Im gelblichen Magma schwimmen Kristalle, die in der Hitze des Apparats immer weiter anwachsen. Sobald sie die richtige Größe haben, werden Zuckerlösung und Kristalle in einer Zentrifuge voneinander getrennt – so wird Zucker gemacht.

Bild 15Eine Station weiter kommt dann der weiße Zucker zum Vorschein. Hier sind die Wände gekachelt, der Fußboden ist zweifarbig gefliest. Die Mitarbeiter tragen weiße und blaue Arbeitskleidung und helle Arbeitshauben. Sie überwachen die Abfüllstation. Aus Stahltrichtern an der Decke fällt Zucker aus Silos auf die Waagen an den Verpackungsbändern. Maschinen falten Papier und Pappe zu Kartons und Tüten. Hinein kommen Haushaltszucker, Würfelzucker, Gelierzucker, Puderzucker. Noch in den 50er Jahren arbeiteten hier allein bis zu 500 Mitarbeiter. Damals wurde noch jede Tüte einzeln per Hand verpackt. Es war die Blütezeit des Zuckers – den Menschen konnte es gar nicht süß genug sein.

Bild 16Diese Jubeljahre sind längst passe. Die Zuckerwirtschaft steckt nun mitten im Umbruch. 2017 wurde die Zuckermarktordnung der EU gekippt. Jetzt darf jedes Land soviel Zucker produzieren, wie es möchte. Die Folge: Es gibt weltweit zuviel Zucker, die Preise fallen. Vor allem die Überproduktion in Indien und Thailand macht der hiesigen Zuckerindustrie zu schaffen. Und wenn es im Norden einen heißen und sonnigen Sommer gibt, dann herrscht Krisenstimmung bei Nordzucker. Hinzu kommt die vermehrte Diskussion um mögliche Gesundheitsgefahren durch Zuckerkonsum. In England gibt es bereits eine Zuckersteuer – und auch in Deutschland gibt es konkrete Pläne der Bundesregierung, wie der Zuckerverbrauch eingeschränkt werden kann. Denn zuviel Zucker kann zu Übergewicht, zu Bluthochdruck oder auch zu Diabetes führen. Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt maximal sechs Teelöffel Zucker am Tag. Die Deutschen aber essen durchschnittlich sechzehn.

Bild 17Der Zuckerverbrauch der Deutschen liegt seit vielen Jahren konstant bei etwa 20 Kilo bei Männern und 18 Kilo bei Frauen. So laufen in Uelzen jede Stunde 28 500 Packungen vom Band. Das Unternehmen macht damit einen Jahresumsatz von fast zwei Milliarden Euro. Aber die Zeiten für die Zuckerindustrie werden härter – Zukunftsprognosen sind nur schwer zu treffen. Georg Sander aber meint: „Wir werden auf Zucker in der Ernährung nicht verzichten. Allerdings werden wir vielleicht noch ein bisschen bewusster diesen Zucker zu uns nehmen.“

Gedreht wurde die Dokumentation im Herbst 2018 in Uelzen, Hohenhameln-Harber, Clauen, Weetzen und Springe.

Wir bedanken uns für die freundliche Unterstützung bei:
Nordzucker AG Braunschweig
Südzucker AG Obrigheim
KWS Saat SE, Einbeck
Uwe von Borries, Königslutter
Christian Hartlep, Giesen
Günther Grützner, Bad Freienwalde

Wiederholung: 31. Januar 2019 um 06:35 Uhr, NDR-Fernsehen

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